Liebe

Reinheit

Sind Kinder kritikfähig und müssen sie es sein? War ich das einzige Kind, das mit 6 Jahren nicht selbstkritisch genug für die Erwachsenen war? Stimmte was mit mir nicht oder stimmte mit dem System etwas nicht?

Aus meiner Sicht sind Kinder sehr empfindsame Wesen und nicht kritikfähig. Ich finde, ich war da keine Ausnahme, sondern ich bin die Regel. Bewertung, Kritik, Ermahnungen und Zurechtweisungen tun den meisten Kindern sehr weh, beschämen sie und können im Erwachsenenalter unter anderem zu Selbstverleugnung, Selbtsunterdrückung und zur Selbstfolter im Gewand des Perfektionismus führen. Warum beobachte ich so viele Erwachsene, die heute perfekt sein und alles unter einen Hut bekommen müssen? Jonglieren bis zum Ende ihrer Kräfte? People pleasen. Hauptsache der Schein ist gewahrt. Sie wollen wie ich den Schmerzen der Kritik entkommen, um diese nicht mehr spüren zu müssen. Geht der Plan auf? Bei mir nicht.

Unser Auftrag als Erwachsene ist es, Kinder zu akzeptieren und zu lieben so wie sie sind. Mit allem was sie sind. Ihnen die Möglichkeit zu bieten sich auszuprobieren, zu lernen und zu reifen. Das können sie am besten, wenn sie selbst spüren dürfen, was für sie und ihre Beziehungen richtig ist und was nicht. Das ist manchmal schwer, denn sie sind so reine Spiegel und zeigen uns alles, was wir an uns selbst (durch Regeln, Verbote und Erziehung) nicht mehr glauben lieben zu können, was wir ablehnen, was wir nicht sein durften, was uns ab- oder anerzogen wurde. Wir waren einst diese reinen Spiegel.

Und wie heißt es doch: wenn wir uns selbst nicht (ganz) lieben, können wir auch andere nicht (ganz) lieben. Kinder müssen nicht erzogen werden. Kinder geben immer ihr Bestes und haben immer einen plausiblen Grund für jedes noch so absurde Verhalten. Dies gilt es zu hinterfragen, statt darüber zu urteilen. Kinder sind so rein in ihren Absichten und diese Reinheit müssen wir doch bei jedem Kind so gut es geht bewahren. Diesen Auftrag fühlte ich vom ersten Tag als Mutter. Und natürlich bin ich damit irgendwann sehr an meine Grenzen gestoßen. 

Denn statt Selbstliebe entwickelte und kultivierte ich in mir einen inneren Kritiker voller Unzufriedenheit und Selbstsblehnung. Ich dachte er wäre mein Freund und würde mir helfen mich zu einem besseren Menschen zu machen. Aber als ich erkannte was er in mir anrichtet, wollte ich dies auf keinen Fall an meine Kinder weitergeben. Nur so einfach wurde ich meinen kritischen Freund und seine Meinungen nicht mehr los. 

Viel Bewusstseinsarbeit lag auf meinem Weg. Ich dachte: „Liebe, das geht leicht,“ aber Liebe kann so schwer sein, für einen verletzten Menschen, der in einem strengen, bewertenden, urteilenden und verbohrten Verstand gefangen ist.

Und wenn immer mein Verstand mit seinen Regeln, Irrtümern, Geschichten, Lügen, seiner Moral und falschen Glaubenssätzen an seine Grenzen stößt, sich vor meinem Herzen niederknien, vor seiner Größe verneigen und ihm vertrauen muss, vollzieht sich ein schmerzhafter und gleichzeitig heiliger und befreiender Akt der Liebe und Güte. 

Die blockierten Energien in mir beginnen wieder zu fließen. Meine Herzenswahrheit bringt Tränen der Heilung und Befreiung. Befreiung von Schuld-und Schamgedanken, Befreiung von Angstgedanken und Horrorszenarien über die Zukunft und über mich selbst. 

Ohne mein Herz hätte ich mich jedes Mal verloren, wann immer mein Verstand verloren hat und kapitulieren musste. Ich verstehe warum Menschen ihre Konstrukte im Kopf nicht aufgeben können und wollen. Sie geben uns Halt und Orientierung, wir glauben durch sie zu wissen wer wir sind, können uns selbst und alles und jeden richtig einordnen. Klappe zu Affe tot. Aber sie sind oft nicht wahr und bringen uns viel unnötigen Schmerz und Leid.

Der Weg ins Herz, das keine Urteile kennt, ist kein leichter. Es ist der längste, so behauptet ein chinesisches Sprichwort.

Er bringt unsere eigene Zartheit und Zerbrechlichkeit immer wieder ans Licht. Aber wenn wir uns darüber bewusst sind, wie zart und verletzlich wir alle tatsächlich sind, sehen wir die Zartheit auch wieder in anderen Menschen und vor allem in unseren Kindern. Wir spüren, was wir selbst und sie wirklich brauchen und fangen an uns von allein zu verändern. Wir erkennen mehr und mehr, dass wir alle verletzt wurden und wir alle unsere Zerbrechlichkeit beschützen wollen. 

Es ist kein leichter Weg diese Wunden zu heilen. Es ist kein leichter Weg seine Schutzmauern einzureißen und seine eigene Verletzlichkeit zu spüren. Möchten wir doch alle am liebsten nur stark und selbstsicher sein.

Doch wer seine Wunden nicht unbemerkt weitergeben möchte, kommt wahrscheinlich nicht drum herum hinzuschauen.
Wer die Welt, so wie sie ist nicht lieben kann, darf sich früher oder später, seinen eigenen Wunden und Ängsten zuwenden. 
Wer den Zustand der Erde und das Klima bedauert, kommt früher oder später bei sich und seinen eigenen Wunden an.
Wer auf die da oben, da unten, oder da drüben zeigt kommt irgendwann nicht mehr an seiner Verwundbarkeit vorbei.
Wer dauerhaft gesund und glücklich im Körper leben möchte, muss sich seine Verletzlichkeit eingestehen, diese würdigen und sorgsam mit sich selbst umgehen.
Wer nicht mitansehen möchte, wie jeden Tag neue Wunden entstehen, darf bei seinen eigenen beginnen. 
Wer gesegnete Freundschaften und stabile Partnerschaften führen will, darf die Augen liebevoll auf seine Wunden richten und lernen sie mit der Liebe aus dem eigenen Herzen zu heilen. 

Der Mensch ist ein zartes, verletzliches Wesen. Unsere (verletzten) Gefühle und Ängste haben ihre Daseinsberechtigung. Wir dürfen einen friedlichen Umgang damit kulitvieren und mehr Räume ermöglichen, in denen sie gehört, gesehen und gefühlt werden können. Das macht uns wahrhaftig stark und unverwundbar.

Ich bin so unendlich dankbar zu wissen, dass so viele Menschen diesen Weg gehen und ich nicht alleine bin. Es gibt genug Hilfe, niemand muss diesen Weg alleine gehen. Danke❤️🙏🏻